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Der "Große Gatter" - Prototyp des Gatter-Volkswagens

Der Große Gatter (auch "Modell Schreckenstein" genannt) wurde in vier Exemplaren in den Jahren 1926-1929 in Reichenberg und Aussig gebaut. Von der Fachpresse wurde er als Modell des "Europawagens" gefeiert (Link zu den Besprechungen des Wagens in der "Motor Kritik" von 1929: Artikel 1, Artikel 2).



Prototyp des Gatterwagens im Jahre 1928 (Bild Josef Ganz Archiv )

Unterstützt von einem Konsortium lokaler Finanzleute und der Reichenberger Automobil Fabrik (RAF) baut Willibald Gatter ab Juli 1926 in Reichenberg den ersten Prototyp seines Volksautomobils. Sein Vorhaben war die Schaffung eines preisgünstigen Viersitzers, der die Motorisierung breiter Volksschichten ermöglichen würde. Der Aufbau des Wagens war daher denkbar einfach gestaltet und die Stückliste enthielt neben Kühler und Tank nur 200 Einzelteile - Schrauben und Splinte eingerechnet. Bereits Ende des Jahres 1926 war der Prototyp des Gatter-Wagens fahrtüchtig.


Prototyp des Gatterwagens im Jahre 1926 vor dem Gatter'schen Haus in Hühnerwasser

Nach Abschluss der konstruktiven Vorarbeiten verlegte Gatter sein Konstruktionsbüro im November 1927 nach Aussig an der Elbe, wo ihm die Georg Schicht A.G. großzügige Mittel für die Feinarbeiten und Erprobung des Wagens zur Verfügung gestellt hatte. Der Fettsäure verarbeitende Schichtkonzern betrieb damals Vorstöße in andere Wirtschaftssektoren, um seine im Seifengeschäft erwirtschafteten Überschüsse gewinnbringend anzulegen. Georg Schicht, dem die kaufmännische Leitung des Unternehmens unterlag, schien die nach dem Ersten Weltkrieg schnell aufstrebende Automobilproduktion dazu der richtige Weg. Gatter wurde als technischer Leiter der neuen Automobil-Sparte angeworben, mit dem Zugeständnis, weitgehende Freiheiten in Gestaltung und technischer Ausführung zu haben und das Auto als "Gatter Wagen" vermarkten zu können. In Aussig baute Gatter 1928 zwei weitere Probewagen rahmenloser Bauart mit Schwingachsen und einem 1 1/2 Liter Motor. Auf Testfahrten in der Tschechoslowakei, Deutschland und Österreich unterzog er sie strapaziösen Belastungsproben wobei die Automobile nach Meinung Georg Schichts "auch ganz hochgestellten Anforderungen entsprachen".


Prototyp des Gatterwagens im Jahre 1928 (Bild Josef Ganz Archiv )

In Aussig wohnte Willibald Gatter zunächst im Hotel Goldener Schwan, ab Frühjahr 1928 ist er in der Pestalozzistraße 100 im Stadtteil Schreckenstein gemeldet. Wie überall in Böhmen, war die Motorisierung dieser 40.000 Einwohnerstadt damals erst wenig fortgeschritten und Fiaker prägten nach wie vor das Bild. Nach einer Statistik des Polizeirayon Aussig zählte die Stadt 166 Personenwagen, 86 Lastautos, 3 Autobusse und 4 Traktoren. Gatter meldet zwischen 1927 und 1929 eine Anzahl von Patenten zum Gatter-Wagen in der Tschechoslowakei, dem Deutschen Reich, Frankreich, Großbritannien und den USA an, so etwa ein Patent für die "Lagerung der gabelartig ausgebildeten inneren Enden von Schwingachsen", für die "Abfederung schwingender Halbachsen" und für eine "Vorrichtung zum Schalten von Wechselgetrieben".


Prototyp des Gatterwagens im Jahre 1927 vor der Burg Schreckenstein in Aussig/Elbe.

Zum Anlass des 80-jährigen Gründungsjubiläums der Schichtwerke wurde der damals noch recht archaisch-kastenförmige Gatter-Wagen 1928 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Von den Aussiger Bürgern wurde das Vorhaben einer heimischen Automobilproduktion mit Wohlwollen und Stolz aufgenommen. Als die Zeitschrift Motor-Kritik das Auto 1929 der Fachwelt vorstellt, weist der Wagen bereits aerodynamische Kurven auf: "Das Fahrzeug ist bis in alle Einzelheiten glänzend durchdacht", preist Chefredakteur Josef Ganz den Wagen. "So befindet sich beispielsweise der Akkumulator gut zugänglich über dem Getriebe und ist mit dem Starter durch ein ganz kurzes Kabel verbunden ... Ebenso überzeugend erfolgt der Tachometerantrieb. Gerade an solchen Einzelheiten erkennt man am leichtesten die Durcharbeitung einer Konstruktion. Die des Gatter-Wagens ist über jedes Lob erhaben. Die Durchbildung jedes einzelnen Teiles läßt das Wirken eines mit der Fertigung bis ins kleinste vertrauten Fachmanns erkennen, der jedoch darüber keineswegs das Gesamtziel aus dem Auge verliert. Es ist kaum glaublich, daß der Schöpfer des Gatter-Wagens in unserer, an zielbewußten Automobilkonstruktionen so armen Zeit nicht schon längst aus dem entlegenen Winkel seines Wirkens hervorgeholt und an eine der vielen Stellen berufen worden ist, die eines derartigen Kopfes bedürfen."


Artikel aus der "Motor Kritik" von Josef Ganz von 1929.

Da der Wagen "in eine tiefe Lücke hineinpaßt, die der Autobau der Welt offenläßt" und dem Fahrzeugtyp sehr nahe kommt, "nach dem sich der Werktätige, Arzt, Kaufmann, Ingenieur, Geistliche sehnt", prophezeite Josef Ganz dem Gatter-Wagen "großen geschäftlichen Erfolg". Doch Josef Ganz hält auch mit Kritik am Prototyp nicht zurück. Er hält den Achtzylindermotor für zu groß und rät statt dessen zu einem 1½ Liter-Vierzylinder. Der Bequemlichkeit wegen empfiehlt Ganz, die Sitze "frei nach Bauhaus durchzubilden". Dennoch überwiegt das Lob: " ... das Bestechende am Gattertyp ist: Leichte Bauart, dabei trotzdem genügend Sitzraum und gute Straßenlage ... Sein Schöpfer hat dem Flug seiner Gedanken freie Bahn gelassen. Wenn er König wär, schalten und walten könnte, wie ihm beliebt, würde er d i e s e n Wagen bauen lassen."

Die Weltwirtschaftskrise, die 1929 auch über Böhmen hereinbrach, beendete jedoch die Pläne zur Aufnahme einer Serienproduktion. Europa versank in Arbeitslosigkeit und Inflation, die Nachfrage nach Automobilen erreichte einen Tiefststand und das Aktienkapital vieler Betriebe, so auch der Schicht A.G. verfiel. Mitte Mai 1929 veröffentlichte die Motor-Kritik noch die Pläne des Wagens und adelte ihn zum zukunftsträchtigen Modell eines "Europawagens": "Wir besitzen heute unzählige Automobiltypen - in Deutschland allein an hundert. Fragt einen aber ein Durchschnittsdeutscher danach, welcher für ihn passend wäre, kommt man in nicht geringe Verlegenheit. Zwischen ausgesprochenen Autosurrogaten und "Luxus"-Wagen mit über 20 Pfennig Kilometerkosten gibt es einfach nichts ...", schreibt Chefredakteur Josef Ganz, "diese klaffende Lücke könnte ein entsprechend durchgereifter Gatterwagen schließen".


Amerikanisches Patent für Gatters Schwingachsen von 1927